OER: Verhandeln



Die Kunst des Verhandelns – ein schwieriger Balanceakt zwischen sozialen Beziehungen, vertraglichen Vorzügen und finanziellen Möglichkeiten

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Mitwirkende: Deidree Tjokrosetio, Laura Winkens, Morris Ameyaw Yiadom und Sofie Schuller

Du hast das Gefühl dir steht mehr zu

Du hast es geschafft! Stell dir vor: seit langem wolltest du mehr Verantwortung im Unternehmen übernehmen und genau das kannst du jetzt. Du hast dich mit deinem Vorgesetzten darauf geeinigt, welche zusätzlichen Aufgaben du übernehmen wirst, aber du stellst fest, dass du noch nicht über eine Gehaltserhöhung gesprochen hast, die deiner Meinung nach den neuen Aufgaben angemessen ist. Dies scheint die perfekte Gelegenheit zu sein, um dein Gehalt zu verhandeln, aber wie gehst du in dieser Situation vor? Wie kannst du sicherstellen, dass du das bestmögliche Ergebnis verhandelst? Du hast bereits einige Erfahrung mit Verhandlungen, und eines ist dir klar: Nicht jeder verhandelt auf die gleiche Art und Weise, und auch das Verhandeln mit verschiedenen Menschen ist unterschiedlich. In diesem Podcast gibt die Verhandlungsexpertin Bibi Linssen einige der wichtigsten Tipps für erfolgreiche Verhandlungen, einschließlich der Dos und Don’ts, und welche Aspekte verhandelbar sind und welche nicht. Darüber hinaus geht es in diesem Artikel um deinen persönlichen Verhandlungsstil und darum, wie du diesen zu deinem Vorteil nutzen kannst.

Verstehe deinen Verhandlungsstil

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Verhandlungsstile zu klassifizieren, aber ein häufig verwendetes Instrument ist das Thomas-Killman-Instrument (TKI). Thomas und Killman unterscheiden zwischen fünf verschiedenen Verhandlungsstilen. Jeder dieser Stile ist eine Kombination aus dem natürlichen Durchsetzungsvermögen einer Person und dem der Kooperation. Das bedeutet, dass dein Verhandlungsstil sich durch ein inneres Gleichgewicht zwischen dem Wunsch deine persönlichen Ziele zu erreichen, und dem Wunsch die Ziele der anderen Person zu unterstützen, zusammensetzt. Je nachdem, wie durchsetzungsfähig und kooperativ du bist, lassen sich die folgenden fünf Arten von Verhandlungsstilen unterscheiden. Schau dir die folgende Abbildung an, um ein Gefühl für die verschiedenen Verhandlungsstile zu bekommen!

  1. Kooperativ (Collaborating): Jemand, der einen kooperativen Verhandlungsstil hat, findet beide Aspekte wichtig, Kooperationsbereitschaft und Durchsetzungsvermögen. Bei diesem Stil werden persönliche Ziele nicht auf Kosten anderer verfolgt, sondern so, dass die Ziele aller erreicht werden können. Das ideale Ergebnis für jemanden mit einem kooperativen Stil ist eine Win-Win-Situation. Personen mit diesem Stil nehmen sich in der Regel die Zeit, die Wurzeln der jeweiligen Meinungsverschiedenheit zu verstehen, und versuchen, aus neuen Erkenntnissen zu lernen. Der Nachteil ist, dass eine Win-Win-Situation oft nicht möglich ist.
  2. Konkurrierend (Competing): Jemand, der einen konkurrierenden Verhandlungsstil hat, neigt dazu weniger Wert auf Kooperationsbereitschaft zu legen und mehr Wert auf Durchsetzungsvermögen. Das Verfolgen persönlicher Ziele hat Vorrang, was manchmal auf Kosten der Ziele anderer geschehen kann. Im Allgemeinen ist dieser Stil machtorientiert, was bedeutet, dass jemand mit diesem Stil wahrscheinlich hartnäckig bleibt, um seine persönlichen Ziele zu erreichen.
  3. Kompromissbereit (Compromising): Jemand, der als kompromissbereit eingestuft werden kann, wertschätzt sowohl Kooperation als auch Durchsetzungsvermögen in gleichen Maßen, ohne sich dominant für eines von beiden zu engagieren. So wie die Positionierung dieses Stils in der Mitte der Matrix, neigen Personen mit diesem Verhandlungsstil dazu, den Mittelweg zu suchen. Probleme werden nicht vermieden, aber sie werden nicht so gründlich aufgearbeitet, wie es jemand mit einem kooperativen Verhandlungsstil tun würde.
  4. Entgegenkommend (Accommodating): Im Gegensatz zu Personen mit einem konkurrierenden Verhandlungsstil legen Personen mit einem entgegenkommenden Verhandlungsstil viel Wert auf Kooperationsbereitschaft, was auf Kosten ihrer Durchsetzungsfähigkeit geht. Personen mit diesem Stil sind dafür bekannt, dass sie ihre eigenen Ziele zurückstellen, um anderen zu helfen, ihre Ziele zu erreichen. Dieser Stil ermöglicht es Menschen, gute soziale Beziehungen am Arbeitsplatz zu schaffen, jedoch laufen sie auch Gefahr, dass ihre Tendenz zu Unterstützen von anderen schamlos ausgenutzt wird.
  5. Vermeidend (Avoidant): Wenn jemand einen vermeidenden Verhandlungsstil hat, neigt er dazu, weder kooperativ noch durchsetzungsfähig zu sein. Dieser Stil ist das Gegenteil des kooperativen Verhandlungsstils. Jemand mit diesem Stil wird wahrscheinlich weder seine eigenen Ziele verfolgen, noch wird er anderen aktiv helfen, ihre Ziele zu erreichen. Stattdessen werden Personen mit diesem Stil jede Art von Konflikt vermeiden und versuchen, wenn möglich, nicht in eine Verhandlung zu geraten. Dies kann in Zeiten nützlich sein, wenn man sich auf einen neuen Weg konzentrieren möchte, da Ablenkungen vermieden werden.

Jetzt, da du die verschiedenen Stile kennst, möchtest du wahrscheinlich wissen, welcher davon auf dich zutrifft! Hier haben wir dir eine Online-Version des TKI verlinkt.

Gut zu wissen – aber wie kann man das nutzen?

Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass du nicht einen einzigen Verhandlungsstil hast. Die Faustregel besagt, dass die beiden Stile, bei denen du die höchste Punktzahl hast, dein natürliches Verhandlungsverhalten widerspiegeln. Ebenfalls gibt es keinen idealen Verhandlungsstil, sondern es kommt auf die Situation und den Inhalt der Verhandlung an. Wie kannst du also das Wissen über deinen Verhandlungsstil nutzen?

Jeder Verhandlungsstil verfügt über eine Reihe von sozialen Fähigkeiten, die intuitiv eingesetzt werden. Die Kenntnis über deine Stärken und Schwächen kann dir helfen, deine natürlichen Talente optimal zu nutzen und Taktiken zu finden, um deine Schwachstellen auszugleichen. In der Arbeitswelt kommen Verhandlungssituationen selten aus heiterem Himmel, was dir den Vorteil verschafft, dich vorbereiten zu können. Mit den folgenden Schritten kannst du deine Strategie für eine bevorstehende Verhandlung vorbereiten:

  1. Berücksichtige deinen Verhandlungsstil und den Kontext: Sind Sie eher beziehungsorientiert oder eher zielorientiert? Menschen mit einem eher zielorientierten Verhandlungsstil gehen eher als „Gewinner“ aus einer Verhandlung hervor, aber es ist nicht immer das Beste, den höchsten Gewinn zu erzielen, wenn dieser nur für kurze Zeit anhält. Personen, die eher beziehungsorientiert sind, bauen oft leicht ein gutes Verhältnis zueinander auf, was du zu deinem Vorteil nutzen kannst, aber sei vorsichtig, dass du dich nicht zu sehr zurückhältst. Berücksichtige den Inhalt der Verhandlung. Verhandelst du über ein Gehalt? Dann könnte es hilfreich sein, sich mit den Strategien der zielorientierten Verhandlungsstile zu befassen, z. B. eine klare Vision zu haben und die eigenen Bedürfnisse zu vertreten.
  2. Bereite dein(e) persönliches(n) Ziel(e) vor: Was willst du? Was ist für dich das bestmögliche Ergebnis? Dies kann sehr subjektiv sein und hängt mit deiner persönlichen Tendenz zur Ziel- bzw. Beziehungsorientierung zusammen. Um auf das eingangs erwähnten Beispiels einer Gehaltsverhandlung zurückzukommen, könnte es hilfreich sein, eine klare Gehaltsspanne im Kopf zu haben. Was brauchst du, um den Lebensstil zu erhalten, den du gerne hättest? Ist es nur Geld, dass das Unternehmen bieten kann? Im Podcast erfährst du mehr über die verschiedenen Aspekte, die Teil deiner Gehaltsverhandlung sein können.
  3. Ermittle deine bestmögliche Alternative: Es ist wahrscheinlich, dass du dein persönliches Ziel nicht erreichst, aber um zu verhindern, dass du mit einem Gefühl der Niederlage aus der Verhandlung gehst, kann es hilfreich sein, deine bestmögliche Alternative zu definieren. Die bestmögliche Alternative kann viele Facetten haben. In unserem Beispiel wäre der schlimmste Fall, dass es keine Gehaltserhöhung gibt. Gibt es also etwas anderes, das du aus diesem Gespräch mitnehmen kannst? Du kannst zum Beispiel die konkreten Konditionen aushandeln, unter denen du eine Gehaltserhöhung bekommen kannst. Wenn du dir Klarheit darüber verschaffst, was das Unternehmen von dir erwartet, um eine Gehaltserhöhung zu erhalten, kannst du besser darauf hinarbeiten oder entscheiden, dass du woanders eine bessere, passendere Stelle finden kannst. Außerdem kann es bei der nächsten Verhandlung mit deinem Arbeitgeber hilfreich sein, diese Konditionen fest gelegt zu haben, da dann alle Karten auf dem Tisch liegen. 
  4. Mache Platz für die Perspektive der anderen Seite: Inzwischen hast du das ideale Ziel und deine bestmögliche Alternative festgelegt. Aber was ist mit der anderen Seite der Verhandlung? Es kann wertvoll sein, deren „persönliches Ziel“ zu verstehen und Fragen dazu vorzubereiten. Dabei handelt es sich vor allem um „Warum“-Fragen, z. B. „Warum glauben Sie, dass ich im Moment nicht für eine Gehaltserhöhung in Frage komme?“.  Personen mit einem eher beziehungsorientierten Verhandlungsstil fällt dies möglicherweise leichter, da sie sich um den Austausch von Informationen und die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten bemühen. Achte darauf, dass deine Fragen aufrichtig wirken und nicht den Anschein erwecken, dass du Informationen zum Nachteil des anderen suchst. Im Artikel über selbstbewusste Kommunikation findest du einige Tipps, wie du den Spagat zwischen deinen eigenen und den Interessen des anderen meistern kannst.
  5. Denk über alle „zwischen“ Möglichkeiten nach: Hier geht es darum, alle Möglichkeiten auszuloten, die dein Verhandlungsziel in gewissem Maße erfüllen würden. Du denkst vielleicht, dass dein persönliches Ziel nicht sehr flexibel ist. In unserem Gehaltsbeispiel hat man eine Vorstellung davon, wie viel man gerne bekommen würde. Entweder es klappt oder es klappt nicht, richtig? Nicht ganz. Der finanzielle Wert kann sich aus anderen Aspekten als nur dem Gehalt zusammensetzen. Was ist mit Sozialleistungen, Pendlerpauschale, zusätzlichen Entwicklungsmöglichkeiten im Unternehmen? Diese Arten von Verhandlungsgegenständen werden oft als Zusatzleistungen bezeichnet. Bibi erklärt im Podcast einige verschiedene Zusatzleistungen, die Teil deiner Verhandlung sein können. Welche Kombination würde deinem persönlichen Ziel nahekommen? Wenn du ein paar Optionen vorbereitest, hast du bessere Chancen mit deinem Gegenüber eine Einigung zu finden die für euch beide passt.

Eintauchen in die Arbeit mit deinem Verhandlungsstil

Wenn du das TKI noch nicht ausgefüllt hast, solltest du das jetzt tun! Scrolle einfach nach oben für den Link zum kostenlosen Online-Test. Hast du das Gefühl, dass das Ergebnis zu dem passt, wie du dich selbst kennst? Fallen dir Verhandlungssituationen aus der Vergangenheit ein, die deine Stärken oder vielleicht auch Schwächen widerspiegeln? Sich selbst kennen zu lernen, ist der beste Ausgangspunkt um sich weiterzuentwickeln. Wie bei vielen Dingen gilt: Übung macht den Meister. Die Arbeit an deinem Verhandlungsstil baut auf Selbstreflexion auf. Vielleicht willst du den ersten Schritt machen und eine Liste mit deinen Verhandlungsstärken und -schwächen erstellen. Willst du tiefer gehen? Versuche Situationsbeispiele für jeder deiner Stärken und Schwächen zu finden.

Podcast zu Verhandlungen mit Gastexpertin Bibi Linssen (auf Englisch)

In diesem Podcast teilt Bibi Linssen ihre Expertenmeinung zum Thema Verhandeln am Arbeitsplatz. Dies ist eine Zusammenfassung der wichtigsten praktischen Tipps. Wir empfehlen dennoch, dir den Podcast anzuhören, um dir ein vollständiges Bild von den Erkenntnissen unserer Expertin zu machen.

Bibi beginnt damit, mit einigen Erwartungen von jungen Berufstätigen hinsichtlich Vertragsverhandlungen aufzuräumen. In den meisten Arbeitsverhältnissen in der EU wird das Gehalt und sogar mögliche Zusatzleistungen durch Tarifverträge oder Gehaltslisten festgelegt. Um einen guten Eindruck davon zu bekommen, was man erwarten kann, sollte dies deine erste Informationsquelle sein. Als nächstes solltest du dein Netzwerk nutzen. Kennst du jemanden, der jemanden kennt, der in einer Position arbeitet, in der du gerne arbeiten würdest? Frage nach, ob diese Person dir eine grobe Einschätzung ihres Gehaltes geben kann. Oft wollen Personen das genaue Einkommen nicht preisgeben, frage also nach einem ungefähren Wert. Ergänzend zu der Frage, was ein Arbeitgeber zu zahlen bereit ist, stellt sich die Frage, woher du weißt, was dein Wert ist. Der Wert deines akademischen Abschlusses ist einfach zu verstehen, also wirf einen Blick auf die nichtakademischen Aktivitäten, denen du nachgehst. Diese beinhalten Freiwilligenarbeit, Nebenjobs und Projekte. Frage die Menschen dort, was sie an dir schätzen. Dies sind deine übertragbaren Fähigkeiten, die du an einen Arbeitgeber vermarkten kannst. Die eigentliche Verhandlung findet meist nach dem Auswahlverfahren statt. Jetzt kannst du über deine Zusatzleistungen verhandeln, z. B. Mobilitätszuschlag, Rente, zusätzliche Gesundheitsversicherungen und mehr. Zu diesem Zeitpunkt solltest du bereits wissen, welche Leistungen für dich wichtig sind. Auch die Arbeitsstunden und Zeiten lassen sich oft verhandeln. Denke daran, dass dies kein Spiel ist, das gewonnen werden muss, sondern dass dein Arbeitgeber und du die besten Kompromisse finden sollten, die zu einer nachhaltigen Zusammenarbeit beitragen. Mehr ist nicht immer besser.

Hier findest du alle weiteren Artikel und Podcasts unserer Serie zu Kommunikation für dein Berufsglück:

Über die Mitwirkenden

Deidree, Laura, Morris und Sofie sind Master-Studierende der Maastricht University und Teil des PREMIUM Honours Programme. Zusammen mit happy2learn bringen sie dir diese Open Educational Resource.

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Quellen